Datum: 28.10.2015

Arbeitgeberverband stoppt Vertrieb von kritischem Schulbuch

Band „Ökonomie und Gesellschaft“ der Bundeszentrale für politische Bildung

(c) bpb.de - Screenshot - Ökonomie und Gesellschaft

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat ein ihr nicht genehmes Schulbuch zur ökonomischen Bildung gestoppt – durch einen Brandbrief, den Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Verbandes, unter anderem an das Bundesinnenministerium gerichtet hat. Beobachter des Vorgangs sprechen von einem Skandal. Clever verteidigt sein Vorgehen. 

Bei dem Unterrichtsbuch handelt es sich um den Band „Ökonomie und Gesellschaft“, den die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Anfang des Jahres herausgegeben hat. Er wird von Prof’in Dr. Bettina Zurstrassen von der Universität Bielefeld wissenschaftlich verantwortet und enthält zwölf Bausteine für die schulische und außerschulische Bildung, beispielsweise zu den Themen Finanzkrise, Konsumgesellschaft oder Wirtschaftswachstum. 

Gegen den Vertrieb des Bandes durch die bpb hat sich BDA-Mann Clever im Juni in einem fünfseitigen Schreiben stark gemacht. Es ging unter anderem an das Bundesministerium des Innern, dem die Bundeszentrale formal untersteht, sowie den Präsidenten der bpb, Thomas Krüger. Clever drückt darin sein „großes Befremden“ über die inhaltliche Stoßrichtung der Publikation aus. 

BDA-Chef sieht „einseitige Propaganda gegen die Wirtschaft“

Im Kern zielt seine Kritik auf die Darstellung des deutschen Unternehmertums: Der Band zeichne hier ein „monströses Gesamtbild von intransparenter und eigennütziger Einflussnahme der Wirtschaft auf Politik und Schule“ und schildere ein System, „in dem die Wirtschaft ihre Interessen in der Politik mit allen Mitteln, vor allem aber Geld, durchsetzt“. Die „konstruktive und zentrale Rolle“ deutscher Unternehmen etwa in der Berufsausbildung werde dagegen unterschlagen. 

Insgesamt, so Clever, transportiere die Publikation „ideologische und voreingenommene Anschuldigungen“, die der BDA aus „interessierten Kreisen“ schon länger kenne. Dass die bpb diese verbreite und ausdrücklich für den Unterricht empfehle, sei „skandalös und nicht hinnehmbar“. Die Bundeszentrale begäbe sich damit auf „ein Niveau einseitiger Propaganda gegen die Wirtschaft“. 

Der BDA-Mann schließt sein Schreiben mit der Aufforderung, den „Band in dieser Form nicht mehr zu vertreiben“. Tatsächlich wird er auf der Website der bpb derzeit als „vergriffen“ aufgeführt. „Das Bundesinnenministerium ist der Empfehlung des BDA gefolgt“, sagt Bettina Zurstrassen, die wissenschaftliche Leiterin der Publikation. „Und das offenbar ohne den Band vorher inhaltlich selbst zu prüfen“. Das hole der Wissenschaftliche Beirat der bpb erst jetzt nach. 

IG Metall: BDA will kritische Denkschulen aus Unterricht verbannen 

Das vorläufige Vertriebsverbot nennt die Bielefelder Professorin für Didaktik der Sozialwissenschaften ungewöhnlich. So etwas sei „ausgesprochen selten der Fall“. Deutlicher wird Hans-Jürgen Urban, der bei der Gewerkschaft IG Metall als Vorstandsmitglied für Bildungspolitik verantwortlich zeichnet. Er spricht von einem Skandal. „Es darf nicht sein, dass Arbeitgeberverbände mit ihrer Lobbymacht unbequeme wirtschaftliche Theorien aus schulischer Bildung, Lehrerfortbildung und Unterrichtsmaterialien verbannen.“

Denn darum gehe es: Der vorläufige Vertriebsstopp sei Ausdruck eines Kampfes um die Köpfe der Schülerinnen und Schüler. Er dokumentiere, „in welcher Schärfe mittlerweile entlang des Faches Wirtschaft und der Inhalte von sozioökonomischer Bildung“ gerungen werde, so Urban. Auf der einen Seite stünde dabei eine Denkschule, die sich an betriebswirtschaftlichen Modellen orientiere und dem Leitbild des „homo oeconomicus" folge, der rational und nutzenorientiert handelt. 

Auf der anderen Seite stünden Vertreterinnen und Vertreter der sozioökonomischen Bildung, die wirtschaftliche Zusammenhänge zusammen mit sozialen, politischen und gesellschaftlichen Aspekten erklären wollten. Diese inhaltliche Ausrichtung des Bandes, das sagt Zurstrassen, sei dem BDA nicht genehm. Mit seinem Brandbrief versuche er „die Reputation der beteiligten Autorinnen und Autoren zu zerstören“.

Deutsche Gesellschaft für Soziologie: Vertriebsstopp inakzeptabel

Rückendeckung für diesen Vorwurf bekommt Zurstrassen nicht nur von der IG Metall. Auch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie blickt empört auf die Argumentation des BDA. In seinem Brief schreibe Clever den Autorinnen und Autoren des Bandes in „skandalisierender Absicht“ Zitate zu, die nicht von ihnen stammten oder verkürzend aus dem Kontext gerissen wurden. Auch würden Zitate durch nicht markierte Auslassungen verfälschend dargestellt. Der Vertriebsstopp sei daher „inakzeptabel“. 

BDA-Geschäftsführer Clever weist diese Vorwürfe von sich. Er verweist auf den sogenannten „Beutelsbacher Konsens“, dem die bpb-Publikation seiner Ansicht nach „diametral entgegensteht“. Diese Leitlinie ist eine zentrale Grundlage auch der Arbeit der bpb und besagt unter anderem, dass das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers erscheinen muss. Zurstrassen kann Clevers Vorwurf indes nicht nachvollziehen: Anliegen des Bandes sei es ja gerade, unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze im Unterricht aufzugreifen.

Die Sozialwissenschaftlerin bedauert, dass der BDA keine wissenschaftliche Auseinandersetzung gesucht, sondern stattdessen seinen Einfluss im Bundesinnenministerium geltend gemacht habe. Immerhin prüfe jetzt der Wissenschaftliche Beirat der bpb, ob der Vertriebsstopp aufgehoben werde.  Zurstrassen: „Es wäre schön gewesen, wenn das zuerst passiert wäre“. Zumal sie und ihre Autorinnen und Autoren nie die Möglichkeit bekommen hätten, sich gegen die Vorwürfe des BDA inhaltlich zu erwehren.