Datum: 12.03.2020

Kundenakquise im Klassenzimmer – was Lehrkräfte über Lobbyismus an Schulen wissen sollten

Verbraucherzentralen fordern werbefreie Schulen

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Eine neue Studie hat ergeben: 20 der 30 deutschen DAX-Unternehmen versorgen Schulen mit kostenlosen Unterrichtsmaterialien. Spezielle Marketingagenturen werben inzwischen mit der „Ansprache von Jugendlichen gezielt in der Schule“. Eine erstmalig veröffentlichte Befragung der Kultusministerien zeigt, es fehlt an wirkungsvollen Gesetzen, Kontrolle und Transparenz. Aus diesem Grund fordern der vzbv und VBE ein wirksames Werbeverbot.

Lehrmaterial oder Marketingaktion? Bildungsangebot oder Kundenakquise? Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), warnt vor dem zunehmenden Lobbyismus an Schulen. „Wir sehen, dass mehr Wirtschaftsakteure mit vielfältigen, oftmals kostenfreien schulischen Angeboten oder Sponsoring in Schulen drängen. Dabei können außerschulische Angebote den Unterricht ergänzen, dürfen ihn aber nicht ersetzen“, so Müller. Häufig sei es ein schmaler Grat, so Müller. Denn es gebe durchaus Bereiche, in denen eine solche Kooperation von Schulen mit außerschulischen Verbänden, Initiativen und Akteuren Sinn mache, beispielsweise bei der Berufsorientierung. Deshalb müsse man immer wieder genau hinsehen. 

„Wichtig ist, dass eine mögliche Zusammenarbeit von der Sache her begründet ist“, stellt der Sozialwissenschaftler Tim Engartner fest. Laut dem Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt beginne Lobbyismus dort, wo Unternehmen versuchen, Einfluss auf die Institution Schule auszuüben, „um die Köpfe der Kinder zu erobern“. Das könne auf ganz verschiedenen Wegen geschehen: über Sponsoring von Schul- oder Sportfesten, Fortbildungen für Lehrkräfte, Schul- und Schülerwettbewerbe, Unterrichtsmaterialien, Schulhefte und Equipment mit Firmenlogo darauf oder auch über „Firmen-Lehrkräfte“, die von Unternehmen als Experten in die Schulen entsandt werden. „Das Ziel der Firmen ist dabei klar“, sagt Engartner. „Sie wollen ihr Image aufbessern, ein bestimmtes Weltbild vermitteln, Kunden gewinnen und eventuell auch Personal rekrutieren.“

Forderung: Werbeverbot und einheitlichen Regelungen

Das Problem ist, dass es zwar Gesetze, Richtlinien und Vorschriften zu den Themen Werbung und Sponsoring in Schulen gibt – diese sich jedoch in den 16 Bundesländern zum Teil stark unterscheiden, zu weich und unkonkret formuliert oder sogar widersprüchlich sind. Das haben der Verband Bildung und Erziehung (VBE) und der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) in einer gemeinsamen Befragung aller Kultusministerien zum Thema „Einflussnahme von Wirtschaft in Schule“ festgestellt. VBE und vzbv fordern daher die Kultusministerinnnen und -minister auf, sich der Aufgabe anzunehmen, „bundesweit einheitliche Standards für einen wirtschaftsinteressenfreien und unternehmensunabhängigen Lernort Schule zu etablieren.“

„Eine Offenlegungspflicht und ein einsehbares Register müssen für mehr Transparenz sorgen“, fordert Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des VBE mit Blick auf die Ergebnisse der Befragung. Es könne nicht sein, dass dafür nicht ausgebildete Lehrkräfte Materialien und Projekte einschätzen müssen, von deren Umsetzung die Kultusministerien keine Kenntnis erlangen. „Das ist nicht hinnehmbar“, so Beckmann. In einer gemeinsam veröffentlichten Stellungnahme fordern der VBE und der vzbv ein „generelles Werbeverbot an Schulen, das Kinder und Jugendliche vor wirtschaftlicher Einflussnahme im Schulbereich schützt – bundesweit und wirksam.“ Dabei verweisen sie auf den öffentlichen Bildungsauftrag der Schulen, der es Kindern und Jugendlichen ermöglichen soll, sich in einem unabhängigen Umfeld frei zu entwickeln, geschützt vor den Interessen Dritter.

Schon Grundschule im Visier

Wie groß das Problem mit dem Lobbyismus ist, lässt sich auch anhand der jüngsten Studie von Tim Engartner mit dem Titel „Wie Dax-Unternehmen Schule machen“ erahnen. Im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung hat Engartner die Verbreitung von Lehr- und Lernmaterialien durch Unternehmen untersucht. Das Ergebnis: 20 der 30 Unternehmen, die im Deutschen Aktienindex (DAX) gelistet werden, finanzieren oder produzieren Unterrichtsmaterialien. Insgesamt – so die Studie – sind rund 800.000 kostenfreie Materialien online verfügbar, wobei der größte Teil von Unternehmen beziehungsweise von deren Verbänden oder Stiftungen stammt. Zudem ist inzwischen ein ganzer Wirtschaftszweig aus sogenannten Bildungsmarketingagenturen entstanden, die explizit die Beratung zum Thema „Werbung an Schulen“ anbieten. Ihr Argument: Kinder und Jugendliche seien eine besonders lohnende Zielgruppe, die noch einer langen Konsumentenlaufbahn entgegenblickt. Damit sei bewiesen – so Engartner – dass der schulische Lobbyismus längst kein Nischenphänomen mehr sei.

Grundschullehrerin Ann-Kathrin Jansen, die an der Ganztagsschule Molkenbuhrstraße in Hamburg unterrichtet, kann von konkreten Fällen berichten. „Zum Beispiel habe ich ein Angebot von Google bekommen“, erzählt Jansen, „ein Experte sollte mit 3D-Brillen in die Klasse kommen und mit den Kindern einen virtuellen Rundgang durch ein Museum machen.“ Für den Norddeutschen Rundfunk (NDR) hat sie außerdem ein Angebot der Kölln GmbH getestet: Auf der Internetseite des Unternehmens hat sie unter dem Stichwort „Gesundes Frühstück" ein Unterrichtspaket bestellt. Beim Auspacken stellten Ann-Kathrin Jansen und ihre Klasse fest, dass es vor allem Haferflocken und Rezeptheft mit dem Logo des Unternehmens darauf enthielt. Hier war der Fall eindeutig, bei diesem Angebot handelt es sich um eine gut gemachte Marketing-Aktion, getarnt als Beitrag zur Ernährungsbildung.

„Chronische Unterfinanzierung“ als Problem

So deutlich ist Werbung im schulischen Kontext aber nicht immer zu erkennen und Angebote für die Unterrichtsgestaltung könnten zudem häufig als „Win-Win-Situation“ erscheinen, schreiben die Verbraucherzentralen und der vzbv in einem gemeinsamen Positionspapier mit dem Titel „Keine Werbung in der Schule“. So könnten Angebote und Materialien außerschulischer Akteure beispielsweise einen lebensnahen Unterricht ermöglichen. „Auch möchten Lehrkräfte ihren Unterricht mit modernen Lernmitteln, Apps oder anderen digitalen Angeboten bereichern. Gleichzeitig reichen die finanziellen Mittel an Schulen oft nicht aus, um alle Anforderungen selbst zu tragen“, heißt es weiter in dem Papier. Das kann Tim Engartner bestätigen: „Die chronische Unterfinanzierung ist der Kern des Übels“, so der Sozialwissenschaftler. „Lehrkräfte müssen mit sinkenden Schulbuchetats, gedeckelten Kopierkontingenten und veralteten Schulbibliotheken kämpfen.“

Ein Beispiel dafür kann wiederum Ann-Kathrin Jansen liefern. „Wir hatten hier eine ganze Zeit lang noch alte Schreibhefte, auf denen Werbung aufgedruckt war“, berichtet die Lehrerin. „Da die Hefte ansonsten gut geeignet waren, sind wir aus Kosten- und aus ökologischen Gründen natürlich verführt, diese Hefte auch zu verwenden.“ Und sie gibt Engartners Einschätzung Recht: „Und es stimmt, dass wir immer sehr genau auf die Kosten achten müssen, da wir kein Budget haben, um Schreibhefte zu bestellen.“ In einer solchen Situation können kostenlose Ausstattung und Online-Materialien schon mal als sinnvolle Alternative erscheinen. Doch wer entscheidet, wo die Grenze zwischen sinnvoll und unangemessen verläuft?

Welche Lösungen gibt es derzeit?

Die Kultusministerien der Länder sind einhellig der Meinung, dass Schulen und Lehrkräfte selbst prüfen müssten, ob Unterrichtsmaterialien eingesetzt werden können und sollten und mit welchen Unternehmen auf Grundlage entsprechender legitimer Übereinkommen Kooperationen eingegangen werden – auch das ist ein Ergebnis der Befragung von VBE und vzbv. Diese Einstellung sieht Tim Engartner kritisch: „Für eine solche Qualitätsprüfung fehlt den Lehrkräften schlicht die Zeit. Außerdem sind auch nicht alle in ihrer Ausbildung darauf vorbereitet worden – vor allem wenn sie inzwischen vielleicht fachfremde Fächer wie Wirtschaft unterrichten müssen.“ Er fordert deshalb, dass eine bundesweit einheitliche Qualitätskontrolle eingeführt wird.

Eine Idee, die Ann-Kathrin Jansen auf jeden Fall begrüßt. „Es wäre bestimmt eine Entlastung, wenn Material, das kostenfrei an Schulen geschickt wird, vorher zentral geprüft werden muss. So würde dieser Schritt uns Lehrerinnen und Lehrern abgenommen“, meint die Grundschullehrerin. Bis es jedoch so weit ist, liegt die Verantwortung weiterhin bei den Lehrkräften. Deswegen fordern der vzbv und VBE angehende Lehrkräfte besser zu qualifizieren und für Schulen entsprechende Fortbildungsmaßnahmen zu entwickeln.

Das können Lehrkräfte tun

Abgesehen von diesen langfristigen Maßnahmen kann aber jede Lehrkraft auch heute schon etwas tun. So empfiehlt der vzbv, sich bei kostenlosen Materialien zunächst diese Fragen zu stellen: Wer ist der Autor oder Herausgeber des Angebots und wer ist Financier? Welche Interessen könnten dahinterstecken? In vielen Fällen wird schon bei dieser ersten kleinen Analyse deutlich, dass es sich bei dem Bildungsangebot eigentlich um Werbung handelt beziehungsweise Schülerinnen und Schüler beeinflusst werden sollen. Sollten sich Lehrkräfte dennoch unsicher sein, können sie zudem schauen, ob das Angebot bereits im Materialkompass des vzbv aufgenommen und bewertet wurde. Zudem können sie mit Hilfe der Bewertungskriterien des Materialkompasses selbst eine tiefergehende Analyse durchführen.

Klaus Müller, Vorstand des vzbv, empfiehlt den Lehrerinnen und Lehrern außerdem, Lobbyismus im Unterricht aktiv zu thematisieren und die Schülerinnen und Schüler in den Diskurs mit einzubeziehen, um ihnen zu helfen, „eine kritische und selbstbewusste Distanz zu beeinflussender Werbung zu entwickeln“. Sein Tipp: Fragwürdige Angebote kann die Klasse auch gemeinsam an den vzbv weiterleiten und prüfen lassen. Denn überhaupt ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen, sei der erste Schritt – das gelte für Schülerinnen und Schüler ebenso wie für Lehrkräfte und die Politik.