Datum: 22.02.2010

Artensterben: Entschleunigung mit Preisschildern?

Das unsichtbare Preisschild unseres Konsums

(c) unsplash.com CC0

Das weltweite Artensterben schreitet in immer rasanterem Tempo voran, ohne Aussicht auf Entschleunigung. Soll das Massensterben ein Ende haben, sagen Artenschützer, Regierungsberater und Wissenschaftler, muss viel passieren.

Die Zutaten für neue Antibiotika, Krebsmedikamente oder Schmerzmittel könnten in der Tier- und Pflanzenwelt zu finden sein. Beim Magenbrüterfrosch zum Beispiel, der in den 1980-er Jahren im australischen Regenwald entdeckt wurde. Der Frosch brütete seinen Nachwuchs im Magen aus und sonderte dabei ein rätselhaftes Sekret ab, das die Hoffnung auf ein neues Medikament gegen Magengeschwüre nährte. Doch bevor Forscher das Rätsel lösen konnten, war der Frosch ausgestorben - und mit ihm sein Geheimnis. Jahr für Jahr passiert das unzählige Male. Das weltweite Artensterben schreitet in immer rasanterem Tempo voran, ohne Aussicht auf Entschleunigung. Soll das Massensterben ein Ende haben, sagen Artenschützer, Regierungsberater und Wissenschaftler, muss viel passieren. Vor allem jedoch müsse die Artenvielfalt einen Preis bekommen.

Dass es um den Schutz der biologischen Vielfalt der Erde, der Biodiversität, trotz aller Mühen von Politik und Naturschützern schlecht bestellt ist, daran gibt es keinen Zweifel mehr. Die Europäische Kommission zum Beispiel gesteht ihr Scheitern beim Artenschutz offen ein, zuletzt Anfang 2010 in einer offiziellen Mitteilung. Es gebe "deutliche Anhaltspunkte" dafür, heißt es darin, dass die Union ihr Minimalziel, den Artenschwund in Europa bis 2010 wenigstens zu stoppen, "nicht erreichen wird". Prof. Jacqueline McGlade, Chefin der von der EU-Kommission eingesetzten Europäischen Umweltagentur, kann zwar leichte Fortschritte beim Artenschutz in Europa erkennen. Bestimmte Vogelarten hätten sich erholt, und die Verschmutzung der Meere sei zumindest nicht schlimmer geworden. Sie sagt aber klipp und klar: "Wir versagen weiterhin dabei, die Artenvielfalt angemessen zu schützen."

Und in Deutschland? Von den einheimischen Tierarten sind 35 Prozent gefährdet, von den Pflanzenarten 26 Prozent. Das schreibt das Bundesumweltministerium unter Berufung auf die jährlich von der Weltnaturschutzorganisation IUCN ermittelte Liste der bedrohten Arten. Bestimmte Schweinerassen stehen darin, Pferde-, Hühner- oder Rinderrassen, außerdem unzählige Grünpflanzen, Insekten und andere Organismen. Über 7.000 heimische Tierarten sieht der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, BUND, als gefährdet oder vom Aussterben bedroht. Die deutsche Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen sieht 2010 erstmals eine heimische Kaninchenart in akuter Not. Zuvor waren es Schafe, Puten oder Hühner. Von Letzteren führt die Gesellschaft mehr als zwanzig heimische Arten als bedroht, mehr als bei jeder anderen Tierart.

Turbo-Sau verdrängt Haus-Schwein

Ursachen hat das globale Artensterben viele: Die wachsende Weltbevölkerung, die damit steigende Nachfrage nach Anbauflächen für Siedlungen, Nahrung oder Energiepflanzen, durch die artenreiche Flächen zurückgedrängt werden, auch in Deutschland. Oder die Ausdünnung durch die Zuchtprogramme der Landwirtschaftsindustrie. Die setzt auf einige wenige Turbo-Schweine oder Super-Hühner, die viel Ertrag versprechen. Zwanzig Prozent der weltweiten Nutztierarten wie Schwein, Rind oder Geflügel sind laut Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO bereits in ihrer Existenz bedroht. Vielfalt ist nicht mehr gefragt. Stattdessen setzen die Züchter auf einige wenige Eigenschaften, die den vereinheitlichten industriellen Tierhaltungsformen entgegenkommen, etwa im Hinblick auf Auslauf und Futtervorlieben. Viele andere Eigenschaften gehen so im Lauf der Züchtung verloren. Eine hohe Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten zum Beispiel oder eine gute Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel. Die FAO schreibt, das könnte "fundamentale Folgen für die Nahrungssicherheit" zeitigen.

"Die Natur", sagt Bundesumweltminister Norbert Röttgen, "liefert uns Nahrung, sauberes Wasser oder Medikamente." Mit ihrer Zerstörung "bringen wir uns langfristig selbst um unsere Existenz- und Wirtschaftsgrundlage". Der Bundesminister erklärte das Anfang Januar 2010 bei der feierlichen Eröffnung des "Internationalen Jahrs der biologischen Vielfalt". Das Jahr geht auf eine Initiative der Vereinten Nationen zurück und soll das öffentliche Bewusstsein für die Folgen des Artensterbens schärfen. National und international, so Röttgen weiter, müsse alles daran gesetzt werden, "den Verlust der Lebensräume und Arten zu stoppen". Erhebliche Anstrengungen seien dafür nötig.

Manche Anstrengung ließe sich indes nach Ansicht von Regierungsberatern schon durch Streichen von Fehlanreizen und Subventionen vermeiden, solche, die den Artenschwund in Deutschland und Europa heute noch beschleunigen. "Hauptverursacher des Verlustes der biologischen Vielfalt", schreibt der von Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenrat für Umweltfragen, sei die "intensive Landwirtschaft". Die milliardenschweren Agrarsubventionen der Europäischen Union - 2010 mit rund 59 Milliarden Euro der größte Einzelposten des EU-Haushalts - fache die "Intensivierung und Industrialisierung" der Landwirtschaft an. Die Regierungsberater fordern, die Zahlungen künftig an Umwelt- und Naturschutzleistungen der Bauern zu koppeln. "Öffentliche Gelder dürfen nur für öffentliche Ziele eingesetzt werden", so die Sachverständigen. Diesen Standpunkt vertreten auch das Dessauer Umweltbundesamt (UBA) und das Bundesamt für Naturschutz (BfN), die beide dem Bundesumweltministerium zuarbeiten.

Schwachbrüstige Artenschutzprogramme

Das finanzielle Engagement der Politik pro Artenschutz kommt dagegen nach Meinung vieler Fachleute zu kurz. Mehr Mittel für die biologische Vielfalt hat die Bundesregierung im Koalitionsvertrag zwar versprochen. Zum Umfang schweigt der sich aber aus. Den "schönen Worten müssen Taten folgen", verlangt Olaf Tschimpke, Präsident des Naturschutzbundes Deutschland (NABU). "Warum", fragt Gerd Billen, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbandes e.V., vzbv, "gibt es eigentlich staatliche Förderprogramme fürs Energiesparen, aber nicht für die Ausstattung eines Schlafzimmers mit einem nachhaltig produzierten Schrank", dessen Herstellung nicht zulasten der Artenvielfalt geht?

Der NABU beklagt außerdem, den meisten Bundesländern fehle eine "umfassende und Ressort übergreifende Umsetzung der Nationalen Strategie zum Schutz der biologischen Vielfalt". Die Bundesregierung hat diese Strategie Ende 2007 verabschiedet. Sie soll unter anderem sicherstellen, dass Biotope und Wälder sich hierzulande natürlich entwickeln können. Der NABU hat die Umsetzung dieser Strategie in den Ländern jüngst gemeinsam mit dem BUND analysiert. Das Ergebnis, so Tschimpke, sei ernüchternd. Es gebe beim "Artenschutz noch viel Nachholbedarf". Oft fehle den Ländern dafür allerdings das Geld.

Vergessen wird dabei, was die Natur selbst zum Wohlstand der Menschen leistet. Bienen etwa produzieren nicht nur Honig, sondern bestäuben zahlreiche Nutzpflanzen. Den Wert dieser Leistung taxiert der WWF auf vier Milliarden Dollar im Jahr. Korallenriffe wiederum schützen vor Sturmfluten, sind Kinderstube zahlreicher Fischarten und in tragen über den Tauchtourismus in vielen Regionen zum Einkommen der Menschen bei. 170 Milliarden Dollar bringt das nach wissenschaftlichen Schätzungen im Jahr ein.

Dass sich Investitionen in den Artenschutz rentieren, ist eine Kernaussage des großen internationalen Forschungsprojekts "The Economics of Ecosystems and Biodiversity" (TEEB). Das stellte im Herbst 2009 einen Zwischenbericht zu seiner auf mehrere Jahre angelegten Arbeiten vor und kommt darin zu dem Schluss, dass eine Finanzspritze von 45 Milliarden US-Dollar in den Erhalt der weltweiten Naturschutzgebiete Ökosystemleistungen im Wert von fünf Billionen US-Dollar pro Jahr sichert - in Form intakter Böden oder sauberen Wassers beispielsweise. Zum Vergleich: Die EU-Agrarsubventionen liegen - siehe oben - bei 59 Milliarden im Jahr 2010.

Zweites Preisschild zum Schutz der Arten

"Wie beim Klimaschutz", meint BfN-Präsidentin Beate Jessel, müsse "Naturschutz vermehrt durch ökonomische Anreize" gefördert werden. Nötig sei ein "wirtschaftliches Interesse an intakten Lebensgrundlagen", sonst gehe das "wertvollste Kapital der Menschheit" verloren. Die Chefin der Europäischen Umweltagentur, Jacqueline McGlade, sagt, dass "die Preise, die wir für Produkte und Dienstleistungen zahlen, nicht die Schäden abbilden, die sie in Ökosystemen verursachen". Bundespräsident Horst Köhler sieht das genauso: "Jedes Produkt", erklärte er schon auf dem ersten deutschen Verbrauchertag 2007, trage "ein zweites, unsichtbares Preisschild". Diesen Preis zahlten zunächst nicht die Konsumenten, sondern Arbeiter andernorts, Tiere und Umwelt. Dennoch fielen diese versteckten Kosten durch Artensterben oder Klimawandel ebenso auf die deutschen Verbraucher zurück.

Das Staatsoberhaupt rief zum nachhaltigeren Konsum auf. Der sei "keine Frage des Geldes", sondern "eine Frage der Information und der richtigen Wahl". Viele Institutionen und Verbände versuchen Verbrauchern diese Wahl mit eigenen Info-Broschüren zu erleichtern. Greenpeace und die Umweltstiftung WWF haben beispielsweise Ratgeber entwickelt, mit denen Verbraucher im Supermarkt artenschutzgerechte Fischprodukte finden können. Außerdem gibt es viele Gütesiegel, die nachhaltig hergestellte Waren kennzeichnen. Einen Pfad durch diesen Label-Dschungel weist zum Beispiel die Broschüre "Der nachhaltige Warenkorb - Einfach besser Einkaufen", herausgegeben vom Rat für Nachhaltige Entwicklung, einem von der Bundesregierung berufenen Beratungsgremium. Darin finden sich viele Tipps für einen nachhaltigeren Konsum.

vzbv-Vorstand Gerd Billen sagt, beim Artenschutz komme es ebenso wie beim Klimaschutz "darauf an, für die, die etwas tun wollen, gute Handlungsmöglichkeiten für den Alltag zu entwickeln." Klare und verständliche Produktkennzeichnungen seien wichtig, erklärte Billen bei einem Fachgespräch der Michael Otto Stiftung für Umweltschutz im November 2009 in Hamburg. Sie böten Verbraucherinnen und Verbrauchern Orientierung. In der Verantwortung sieht Billen auch die Politik: "CDU-Finanzminister Schäuble muss sich für den verstärkten Abbau ökologisch kontraproduktiver Subventionen einsetzen", so Deutschland oberster Verbraucherschützer. Agrarministerin Aigner müsse sicherstellen, dass der Ökolandbau ausgebaut wird. An solchen Punkten, sagt Billen, könne die Politik "sofort ansetzen."

Dieser Artikel gibt den Sachstand Februar 2010 wieder.