Krise? Welche Krise? Auch sieben Jahre nach Ausbruch der größten Wirtschafts- und Finanzmarktkrise seit 80 Jahren werden ökonomische Kompetenzen in der Schule weiter so vermittelt, als ob nichts gewesen wäre. Das sagt Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Was schief läuft und sich seiner Ansicht nach ändern muss, erklärt er im Interview.
Herr Prof. Engartner, Sie üben harsche Kritik an der ökonomischen Bildung, wie sie heute an deutschen Schulen gelehrt wird. Warum?
Weil die Krise und ihre Ursachen bis heute kein wirkliches Thema im Schulunterricht sind. Eine kritische Sicht auf die Akteure, die Wirkmechanismen und die Folgen der Krise ist nicht zu erkennen. Dass man sich im Unterricht kritischer mit den Finanzmärkten und deren Regulierung auseinandersetzt ebenso wenig. Stattdessen erleben wir, dass immer mehr private Akteure aus der Finanz- und Versicherungsbranche in die Schulen drängen – um dort mit ihren Unterrichtsmaterialien, teils mit eigenen Referenten sowie breit angelegten PR-Offensiven für ihre Sicht der Dinge zu trommeln. Und die ist nun einmal keine kritische, trotz der größten Wirtschafts- und Finanzmarktkrise seit 1929/32.
Was treibt diese Unternehmen Ihrer Ansicht nach um?
Die wollen ihre Reputation zurückgewinnen. Letztlich wollen sie sich nicht um die ökonomische Bildung verdient machen, sondern an ihr verdienen. Das sieht man schon an den Themen, mit denen sie in den Unterricht drängen. Da geht es um Aktien und Anleihen, Devisen und Derivate, Fonds und Futures – fast immer mit dem Ziel, die Schulen als neues Geschäftsanbahnungsfeld urbar zu machen. Das ist beileibe keine Randerscheinung, sondern Schulalltag: Bundesweit gibt es inzwischen 240 solcher teils millionenschweren Initiativen, die von Konzernen wie der Allianz oder von Unternehmensberatungen wie der Boston Consulting Group getragen werden.
Was schlagen Sie vor? Wie sollte Schule eine kritische ökonomische Bildung vermitteln? In einem eigenen Fach Wirtschaft?
Davor kann ich nur warnen. Das würde ein Fach der Wirtschaft werden. Ich befürchte, dass die leider meist unzureichend ökonomisch gebildeten Lehrkräfte dann blind auf die Angebote der Privatwirtschaft zurückgriffen. Deswegen werbe ich für ein Fach Sozialwissenschaften, das die politische, ökonomische und soziologische Dimension des Wirtschaftens abbildet. Wir springen zu kurz, wenn wir die aktuelle Wirtschafts- und Finanzmarktkrise nur aus der ökonomischen Sicht beleuchten. Um die Krise zu verstehen, muss ich auch eine Vorstellung davon haben, wie Märkte reguliert werden oder eben nicht – und was daraus folgt. Das lässt sich aber nicht allein ökonomisch beantworten. Dies berührt in erster Linie die Sphäre der Politik.
Und das Lebens- und Alltagspraktische in Sachen Wirtschaft und Finanzen? Gehört das nicht in den Unterricht?
Natürlich soll Schule auf das Leben vorbereiten. Aber die Analyse von Produkten der privaten Altersvorsorge kann doch nicht ernstlich dem Kanon der Allgemeinbildung zugerechnet werden. Lebens- und Alltagspraktisches kann Schule zum Beispiel über vergleichende Waren- und Dienstleistungstests vermitteln. Das ist eine sozialwissenschaftliche Methode, die einem aufklärerischen Interesse folgt. Als methodischer Zugang für einen Vergleich der Konditionen von Banken oder deren Wirtschaftsweise ist das durchaus interessant. Wie nachhaltig wirtschaften Banken? Nutzen sie meine Spareinlagen zur Spekulation mit Nahrungsmitteln oder nicht? Folgen sie dem Genossenschaftsprinzip oder allein dem Shareholder Value?
Solche Methoden wappnen vor das Hineinrutschen in die nächste Krise?
Sicher nicht alleine, aber es sind kleine Bausteine für eine kritischere Sicht auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten und Kreisläufe. Wir müssen den Schülerinnen und Schülern doch verdeutlichen, dass es keine risikofreien Geldanlagen gibt, obwohl viele Banken gerade dies propagieren. Bank- oder Versicherungsberater, die in die Schule kommen, haben nun mal nicht in erster Linie das finanzielle Wohl der Lernenden im Blick, sondern das ihrer Arbeitgeber.
Was gehört Ihrer Ansicht nach noch auf die Lehrpläne?
Dass eine Ursache der aktuellen Krise die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung ist. Dass es nicht diejenigen sind, die ihr Einkommen für den Verbrauch verzehren, die solche Krisen anrichten, sondern die, die spekulative, an maximaler Rendite ausgerichtete Anlagemöglichkeiten für ihre riesigen Vermögen verfolgen. Grundsätzlich gilt: Wer wenig weiß, muss viel glauben. Deswegen ist eine kritische ökonomische Bildung so wichtig. Nur dann können wir als Konsumentinnen und Konsumenten den Bank- oder Versicherungsberatern die Stirn bieten.
Gibt es denn für diese Themen heute schon genug Raum im Unterricht?
Nein. Auch deshalb nicht, weil sie auch in der Lehrerausbildung an den Hochschulen bislang kaum Platz finden. Von der herrschenden Lehre abweichende ökonomische Ansätze sind dort Mangelware. Wir brauchen aber einen Pluralismus der Erklärungen – und der muss auch in die Schulen getragen werden.
Diese Vielfalt der Meinungen fehlt in offiziellen Schulbüchern?
Ja, auch dort. Für gewöhnlich hinken die Inhalte der Schulbücher den politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen vier bis fünf Jahre hinterher. Deswegen sind die Krise und ihre Ursachen in vielen Büchern noch nicht aufgearbeitet. Für Fächer wie Sozial- und Gemeinschaftskunde oder Verbraucherbildung, die unter einem hohen Aktualitätsdruck stehen, ist dies problematisch. Denn in diese Lücke stoßen die privaten Anbieter, um ihre meist manipulativen, selektiven und tendenziösen Inhalte zu vermitteln. Das ist fatal, denn die geistig-moralische Grundhaltung einer Gesellschaft speist sich maßgeblich aus dem, was in der Schule gelehrt wird.
Das Interview mit Tim Engartner führte der Berliner Journalist Thomas Wischniewski.