In Baden-Württemberg führen sie es bald ein, der Bundeswirtschaftsminister will es in der ganzen Republik und der Bankenverband ebenso – ein Schulfach Wirtschaft, möglichst bundesweit in den Lehrplänen verankert. Und tatsächlich: Die Wissenslücken Jugendlicher in ökonomischen Fragen scheinen riesig. Modelle wie das in Baden-Württemberg halten Bildungsexperten dennoch für falsch.
Dort soll es ab kommendem Schuljahr ein eigenes Fach Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung (WBS) geben, und zwar an allen weiterführenden allgemeinbildenden Schulen. Die grün-rote Landesregierung will das so. „Durch ein eigenständiges Fach“, heißt es von deren Seite, werde „die ökonomische Bildung“ gestärkt und die Berufs- und Studienorientierung gezielt gefördert.
Ökonomische Bildung: Bankenverband attestiert „bedenkliche Lücken“
Schaut man sich Erhebungen des Bundesverbands deutscher Banken an, tut das Mehr an ökonomischer Bildung Not. Der Verband befragt regelmäßig Jugendliche nach ihrem ökonomischen Know-how und kam in seiner letzten Umfrage in diesem Sommer zu dem Schluss, dass sich die Wirtschaftskenntnisse junger Leute zwar „deutlich verbessert haben“. Dennoch blieben „bedenkliche Lücken“. Mit einem eigenen Schulfach Wirtschaft müsse man sie schließen. Dass das bundesweit noch nicht in Sicht sei, sei bedauernswert.
Reinhold Hedtke, Wirtschaftssoziologe an der Universität Bielefeld, findet es dagegen mehr als fragwürdig, wenn der Verband aus seiner Umfrage gleich die Notwenigkeit eines eigenen Schulfachs ableitet. Dass das ökonomische Wissen Jugendlicher Lücken aufweist, bezweifelt er gar nicht. „Aber ob sie größer sind als ihre Defizite bei anderen Themen, erfahren wir durch solche Umfragen doch nicht.“ Denn der Verband konzentriere sich auf einen einzelnen ausgewählten Punkt und leite daraus dann seine Forderung ab. Schon methodisch sei das mehr als zweifelhaft.
Schulfach Wirtschaft – Loblied auf Unternehmertum und Kapitalismus?
Der Hochschulprofessor verfolgt die Debatte um die Einführung eines Schulfachs Wirtschaft seit Langem und sagt, wenn die Rufe danach lauter würden, liege das in erster Linie an einer unternehmens- und wirtschaftsnahen Lobby, „die seit über 15 Jahren dafür trommelt“. Diese Allianz aus Wirtschaftsverbänden, großen Konzernen, Unternehmensstiftungen und konservativ-liberalen Politikern wolle über den Schulunterricht eine grundlegend positive Haltung zum Unternehmertum, zur Marktwirtschaft, zum Kapitalismus schaffen – und eine kritische Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat oder der Mitbestimmung von Arbeitnehmern.
Das ist eine steile These. Hedtke sagt, sie lasse sich belegen und dafür reiche schon ein Blick in die Lehrpläne, etwa in die baden-württembergischen, die er für eine Stellungnahme zu deren Einführung unter die Lupe genommen hat. In den Curricula für das Fach WBS, sagt er, würde „das Unternehmertum verherrlicht, Wirtschaftsverbände und ihre Lobbymacht aber nicht einmal erwähnt“. Zugleich werde die Rolle der Verbraucherinnen und Verbraucher im Wirtschaftsleben einzig aus ökonomischer Perspektive beleuchtet. Eine kritische Sicht auf die Konsumgesellschaft suche dagegen man vergebens.
Entpolitisierung ökonomischer Zusammenhänge
Im Endeffekt, sagt Hedtke, zeuge ein solcher Lehrplan von einer „Entpolitisierung des Wirtschaftsunterrichts und der Verbraucherbildung“. Denn Themen wie Globalisierung, Mitbestimmung oder Verbraucherpolitik würden nur unter betriebs- oder volkswirtschaftlichen Vorzeichen betrachtet. Dass sie auch politische Fragen sind, deren Status quo also durch die Gesellschaft veränderbar ist, falle unter den Tisch. „So zementiert man bestehende Machtverhältnisse“, sagt der Soziologe. „Ein angemessenes Verständnis von der Welt, in der sie leben, vermittelt man jungen Leuten damit nicht.“
Ganz ähnlich argumentiert Till van Treeck, der an der Universität Duisburg-Essen Sozialökonomie lehrt und auch angehende Lehrerinnen und Lehrer ausbildet. Er sagt von sich, durchaus Sympathien für die Stärkung der ökonomischen Bildung zu hegen. Kritisch sieht er aber den Schwerpunkt in der aktuellen Debatte auf einzelwirtschaftliche Betrachtungen und auf Themen wie individuelle Altersvorsorge, Geldanlage oder Unternehmertum. „Die ökonomische Bildung muss Schülerinnen und Schüler auch dabei unterstützen, sich eine eigene Meinung zu wirtschaftspolitischen Fragen zu bilden.“ Wer mit ihnen nur über Themen wie Kontoführung oder Aktienanlage spreche, schaffe das nicht.
Mehr als finanzielle Allgemeinbildung nötig
Zwar hätten auch diese Fragen ihre Berechtigung. Wenn Wirtschaftsunterricht sich aber auf sie beschränke, könne man das als „Versuch einer Entpolitisierung wirtschaftlicher Zusammenhänge“ verstehen. Beim Versuch bleibt es indes nicht. In vielen Unterrichtsmaterialien liegt van Treeck zufolge ein einseitiger Fokus auf Fragen der finanziellen Allgemeinbildung. Insbesondere in privat finanzierten Materialien, die Unternehmen oder ihre Verbände publizierten. Eine ganze Reihe davon hat der Volkswirt analysiert.
Was ihn stört, ist, wie in solchen Materialien zum Beispiel das Thema Rente behandelt wird. Da werde auf den demografischen Wandel verwiesen und daraus dann umgehend die Notwendigkeit abgeleitet, stärker privat vorzusorgen, durch Aktien etwa. Van Treeck sagt, die Frage, die im Unterricht behandelt werden müsse, sei aber eine ganz andere: „Wenn wir vom demografischen Wandel ausgehen, müssen wir fragen, wie wir damit in Sachen Altersvorsorge politisch umgehen“. Die private Vorsorge sei nicht die einzig denkbare Alternative. Ebenso denkbar sei die Stärkung der gesetzlichen Rente durch höhere Beitragssätze. Das sei aber auch eine politische Frage, keine rein ökonomische.
Kontroversen ausgeblendet
Die wirtschaftspolitische Frage werde aber oft unterschlagen. Für die Schülerinnen und Schüler erscheine es dann so, als ob sie nur zwischen verschiedenen privaten Anlageprodukten wählen könnten, um ihre Rente zu sichern. Die eigentliche gesellschaftliche Kontroverse – wollen wir mehr private Vorsorge oder mehr staatliche? – finde in vielen Materialien nicht statt. Zum Nutzen unter anderem der Versicherungswirtschaft, die solche Materialien herausgibt. Zulasten der Jugendlichen, die mit wirtschaftspolitischen Fragen erst gar nicht behelligt werden und Gefahr laufen, ökonomische Zusammenhänge als unpolitisch und unveränderbar wahrzunehmen.
„Ihrem Bildungsauftrag in Blick auf ein wirtschaftliches Grundverständnis können Schulen so nicht gerecht werden“, sagt van Treeck. Wollten sie das, müssten sie im Unterricht neben ökonomischem auch soziologisches, psychologisches und politisches Wissen vermitteln. So werde in der internationalen akademischen Debatte derzeit diskutiert, wie die Wirtschaftswissenschaften sich für interdisziplinäre Ansätze öffnen können. Integrative sozialwissenschaftliche Studiengänge bzw. Schulfächer lägen vor diesem Hintergrund durchaus im Trend der Zeit. „Mit einer weiteren Verbetriebswirtschaftlichung der ökonomischen Bildung werden wir jedenfalls keine kritischen Wirtschaftsbürger aus den Schulen entlassen.“
„Engstirnige Debatte“
Der Soziologe Hedtke geht noch weiter und sagt, die Debatte um ein Schulfach Wirtschaft sei „völlig engstirnig“. Sie finde nur statt, weil man auf Grundlage einseitiger Umfragen und anhaltenden Getrommels von Wirtschaftsverbänden und Konzernen dem Irrglauben aufsäße, Schülerinnen und Schüler müssten mehr über ökonomische Themen wissen. „Wer sagt denn, dass ihr politisches, gesellschaftliches oder rechtliches Wissen besser ist als ihr ökonomisches?“ Das wisse man einfach nicht – weil es in Deutschland keine evidenzbasierte Schulfachpolitik gebe. „Hierzulande ist schlicht viel Ideologie im Spiel“, sagt er.
Datum: 07.12.2015
Schulfach Wirtschaft: Muss oder Mus?
Bildungsexperte: „Engstirnige Debatte“